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Kirchentag

Flüchtlinge

Todesboote in einem Tränenmeer




Der Trauermarsch für ertrunkene Flüchtlinge beim Kirchentag führt durch die Innenstadt zur Reinoldikirche.
epd-bild/Friedrich Stark
Flucht und Migration sind in der öffentlichen Diskussion zuletzt in den Hintergrund gerückt: Die große Flüchtlingszuwanderung von 2015 ist vorbei. Aber beim Kirchentag fallen klare Worte - und werden konkrete Forderungen erhoben.

Mehr als 15.000 Konzertbesucher auf dem überfüllten Hansaplatz in der Dortmunder Innenstadt halten fünf Minuten schweigend inne und gedenken der im Mittelmeer ertrunkenen Bootsflüchtlinge. Der 37. Kirchentag legt den Finger in eine offene Wunde Europas.

Von Skandal und einer Schande für die europäischen Staaten ist in Dortmund mehrfach die Rede, von Todesbooten in einem Tränenmeer, von einem Friedhof der Menschenrechte. "Europa verliert seine Seele, wenn wir so weitermachen", mahnt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. "Europa darf nicht töten, auch nicht durch unterlassene Hilfeleistung", sagt Kirchentagspräsident Hans Leyendecker und spricht von einem Verbrechen: "Man lässt zur Abschreckung die Flüchtlingsboote untergehen und die Flüchtlinge ertrinken."

Roter Faden im Kirchentagsprogramm

Als "Roter Faden Migration, Integration, Anerkennung" durchzog das Thema mit mehr als hundert Diskussionen, Workshops, Ausstellungen und Aktionen das gesamte Programm und bildete damit einen Schwerpunkt des fünftägigen Kirchentages, der am 23. Juni zu Ende ging.

Im Brennpunkt stand aber vor allem die Seenotrettung. Auf der Flucht vor Krieg, Terror und Not seien allein in den vergangenen fünf Jahren 18.000 Menschen zwischen Afrika und Europa ums Leben gekommen, 500 Tote seien es bereits in diesem Jahr, sagte Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, bei einer Gedenkveranstaltung vor dem Opernhaus. "Das ist ein Skandal." Die unter anderem von Kirchen, Pro Asyl, Sea-Watch und dem Bündnis "Seebrücke" getragene Banner-Aktion "Jeder Mensch hat einen Namen" sollte auf die vielen Schicksale aufmerksam machen, auch die von unbekannten Toten.

Kurschus sprach von einer gescheiterten Flüchtlingspolitik, "die eine Schande für Europa ist". Die Unterstützerverbände haben deshalb die auch von den Kirchen mitgetragene Aktion "Jeder Mensch hat einen Namen" ins Leben gerufen. Sie wollen daran erinnern, dass unzählige Menschen, über deren Schicksal man nichts weiß, anonym im Mittelmeer ertrunken sind. Über diese Tragödie dürfe "nicht der Mantel des Schweigens gehängt werden", sagte Kurschus.

Leerstellen für die Namenlosen

In Dortmund schrieben die Besucher der Protestantentreffens zwei Tage lang die Namen der bekannten Ertrunkenen auf riesige orangefarbene Transparente, die dann am Abend unter Glockengeläut am Turm der Reinoldikirche aufgehängt wurden. Auf den leuchtenden Plakaten blieben auch viele Leerstellen für jene Opfer, deren Schicksale namenlos geblieben sind.

Flüchtlinge, die die gefährliche Fahrt überlebt haben, schilderten auf dem Opernplatz dem Publikum ihre Odyssee und dankten den Aufnahmeländern für ihre Hilfe und die Solidarität der Bürger. Mit einer Schweigeminute gedachten die Besucher aller toten Flüchtlinge, die wegen Krieg und Vertreibung ihre Heimat verließen, dann zog der Trauerzug zur Reinoldikirche.

Zu sehen war auf dem Vorplatz der Oper auch ein Schlauchboot aus chinesischer Produktion, dass Helfer der "Seebrücke" 2018 aus dem Mittelmeer geborgen hatten. Mit dem Gummiboot waren 180 Menschen in See gestochen, ein Flüchtling überlebte die Fahrt nicht.

"Sterben macht Christen sprachlos"

Der Migrationsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Rekowski, sagte, das fortgesetzte Sterben auf hoher See "macht uns Christen sprachlos". Er hoffe, dass von der Unterstützungsaktion auf dem Kirchentag für die Seenotrettung "ein klarer Akzent ausgeht, dass jeder Tote einer zu viel ist", erklärte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Rekowski erinnerte erneut daran, dass die Menschenwürde und die Menschenrechte unteilbar seien. Das Sterben auf dem Meer müsse ein Ende haben. "Diese Toten sind Opfer einer verfehlten EU-Politik. Mit jedem Ertrunkenen kommt auch unsere eigene Humanität und Würde in Gefahr."

"Was im Mittelmeer passiert, ist eine Schande", sagte auch der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der einst auf den Todeslisten der Mafia stand und von Leyendecker als einer der wichtigsten Streiter für Menschenrechte in Europa gewürdigt wurde. Migration gebe es zu allen Zeiten in allen Gesellschaften und der heutige Umgang damit widerspreche der eigenen Kultur und Geschichte.

Werbung für Aktion "Sichere Häfen"

Orlando warb auf einem Podium vor mehreren tausend Menschen eindringlich für die Initiative "Sichere Häfen", der sich in Deutschland rund 60 Städte angeschlossen haben - sie wollen Bootsflüchtlinge aufnehmen. Bedford-Strohm sagte dazu in Richtung Bundesregierung: "Die Bereitschaft und die Möglichkeiten sind da, niemand kann mehr sagen, wir können die Flüchtlinge nicht aufnehmen."

Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) kritisierte, dass die Bundesregierung bislang nicht auf das Angebot der Kommunen eingegangen sei. Die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot sei "der Lackmustest, ob wir ein zivilisiertes Europa und ein zivilisiertes Land sind".

Scharf fiel auch die Kritik an der Kriminalisierung von Seenotrettern aus. Nicht diejenigen Menschen müssten sich rechtfertigen, "die im Moment als einzige überhaupt noch Leben retten, sondern diejenigen, die es verhindern", verlangte Bedford-Strohm. Die EKD muss nun überlegen, ob sie selbst noch stärker aktiv wird: Teilnehmer des Kirchentages forderten sie in einer Resolution auf, ein eigenes Schiff zur Seenotrettung ins Mittelmeer zu schicken.

Ingo Lehnick, Dirk Baas


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Teilnehmer des Kirchentages in Dortmund haben ein eigenes Rettungsschiff der Kirche für Flüchtlinge gefordert. In einer Petition, die auf der Seite "change.org" unterzeichnet werden kann, wird an die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) appelliert, selbst ein Schiff ins Mittelmeer zu schicken, wie der Initiator und Grünen-Politiker Sven Giegold, der im Präsidium des Kirchentages sitzt, am 23. Juni mitteilte.

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