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Corona

Viele Berufsgruppen wollen schneller an die Spritze




Hinweis auf das Impfzentrum in Kaltenkirchen
epd-bild/Sebastian Stoll
Die korrigierte Impfstrategie der Bundesregierung ermöglicht nun, dass Kita-Personal und Grundschullehrer bevorzugt geimpft werden. Das weckt Begehrlichkeiten vieler anderer Berufsgruppen, auch in der Jugendhilfe. Jetzt kommt neue Bewegung in die Debatte über die Priorisierung. Erste Bundesländer wollen den Astrazeneca-Impfstoff für alle Bürger freigeben.

Pädagogische Fachkräfte der ambulanten Jugendhilfe suchen Kinder, Jugendliche und Familien oft direkt zu Hause auf - in Zeiten der Corona-Pandemie ein heikles Unterfangen. "Oft wissen die Kolleginnen nicht, was sie hinter einer Wohnungstür erwartet. Es kam schon vor, dass sie erst während des Besuchs erfuhren, dass Familienmitglieder an Covid erkrankt waren", berichtet Karin Raudszus, Leiterin des Ambulanten Erzieherischen Dienstes (AED) der Rummelsberger Diakonie in Nürnberg. Doch vorrangig geimpft werden die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nicht - noch nicht.

"Ich wünsche mir, dass sich die Mitarbeitenden aus der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam mit Erziehern und Lehrern impfen lassen können", sagt Raudszus Kollege Werner Pfingstgraef, Dienststellenleiter der Rummelsberger Diakonie. Das Infektionsrisiko sei nahezu gleich: "Unsere Betreuungsarbeit findet zu weit über 80 Prozent 'face-to face' statt". Das heißt, es gibt regelmäßige Kontakte zu weit über 600 Menschen.

"Es ist für die Kinder- und Jugendhilfe eine herbe Enttäuschung, dass sie hier nicht mitgedacht werden", bedauert Susanna Karawanskij, Präsidentin der ostdeutschen Volkssolidarität. Das gelte besonders für stationäre Einrichtungen: "Die Gefahr einer Infektion ist hier präsent, auch durch den regelmäßigen Kontakt zu Familien und Freunden der jungen Schutzbefohlenen."

Der Deutsche Kinderschutzbund hat für diese Forderungen Verständnis, äußert sich aber diplomatisch. "Es gibt auch in der Jugendhilfe einen hohen Bedarf an Impfschutz, der Hinweis darauf ist richtig. Aber man muss genau abwägen, wer zuerst geimpft wird, weil das erst nach und nach geht", sagte die stellvertretende Geschäftsführerin Martina Huxoll-von Ahn dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zumal in einigen Bundesländern die schnellere Immunisierung etwa der Sozialarbeiter zumindest angedacht sei.

Reichlich Impfstoff von Astrazeneca vorhanden

Weil Millionen Dosen des Vakzins von Astrazeneca keine Abnehmer finden, wird Liste derer, die ebenfalls schneller ihre Spitzen bekommen wollen, immer länger. Lehrende in Pflegeschulen, Personal in Hospizdiensten und Werkstätten für behinderte Menschen, Obdachlose, Asylbewerber und nicht zuletzt die Hausärzte verweisen auf ein erhöhtes Infektionsrisiko.

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe Nordost wirbt dafür, Personal in den Pflegeschulen und -studiengängen bevorzugt zu impfen. Anja Katharina Peters, Vorstandsmitglied und Fachlehrerin an einer Pflegeschule in Neubrandenburg: "Im Grunde ist jeder Unterrichtstag an einer Pflegeschule ein mögliches Superspreader-Event." Distanzunterricht sei auf Dauer unmöglich, wenn die Qualität der Pflegeausbildung nicht leiden solle. Aktuell bestehe ein hohes Risiko, "uns und unsere Familien anzustecken". Deshalb müsse das Lehrpersonal an Schulen und Hochschulen dem Pflegepersonal in der Impfgruppe 2 gleichgestellt werden.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) findet den Ansatz in Berlin gut, überschüssige Vakzine an obdachlosen Menschen zu verimpfen. "Diesen Schritt halte ich für sehr vernünftig und richtig", sagte Geschäftsführerin Verena Rosenke, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Man habe immer deutlich gemacht, dass es unter wohnungslosen Menschen viele mit Vorerkrankungen und aufgrund der prekären Lebensverhältnisse stark geschwächte Personen gibt, die so früh wie möglich geimpft werden sollten. Das Berliner Beispiel sollte Nachahmer finden.

"Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe berücksichtigen"

"Auch für die Mitarbeitenden der Wohnungslosenhilfe sollte diese Möglichkeit gelten. Hilfesuchende und Mitarbeitende müssten aber nicht in der Priorisierung nach vorne rücken, betont Rosenke: "Sie sind ja bereits in Gruppe 2, in die nun auch Lehrer und Kita-Personal aufgenommen worden sind."

Doch um all diese gefährdeten Berufsgruppen schneller impfen zu können, müsste sich die Regierung für ein pragmatischeres Vorgehen entscheiden - und sich über die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) und des Ethikrates hinwegsetzen, die an der Impfung der über 80-Jährigen festhalten.

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, sieht jedoch das Vorziehen von Beschäftigten in Grundschulen und Kindertagesstätten bei Corona-Impfungen kritisch. Sie könne das Ziel nachvollziehen, Schulen und Kindertagesstätten möglichst sicher wieder zu öffnen, sagte Buyx. Sie betont aber zugleich, dass diese politische Entscheidung eine Abkehr vom Prinzip bedeute, zunächst die besonders gefährdeten Gruppen zu impfen.

Impfreihenfolge gerät ins Wanken

Das wirft aber dennoch Fragen auf. Denn diese Richtlinien entstanden, als noch nicht klar war, dass Millionen Impfdosen der Firma Astrazeneca nicht an über 65-Jährige verimpft werden können. Das wird nun geändert. Dennoch halten Kritiker mit Blick auf die bald zu erwartenden Millionen neuer Impfdosen die bestehenden starren Regularien für überholt. Denn: Muss es nicht das übergeordnete Ziel sein, Herdenimmunität durch schnelles Impfen aller Bevölkerungsgruppen zu erreichen?

Auch Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) stellt die momentane Impfstrategie in Frage. Weil die Zurückhaltung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber Astrazeneca unübersehbar sei, mache er sich "große Sorge", betonte der CSU-Politiker. "Sollte es weiter so sein, dass Tausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Impfdosen nicht verimpft werden, dann muss man die Priorisierung für diesen Impfstoff völlig neu überlegen", so Söder. Denn jeder, der geimpft werde - unabhängig vom Alter - schaffe ein Stück weit mehr Freiheit.

Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) sekundiert: "Wir müssen dieses strenge Regiment auflockern und Menschen impfen, die nach der Priorisierung noch nicht an der Reihe wären".

Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums lehnte dagegen Änderungen bei der Impfreihenfolge ab. Er sagte am 1. März in Berlin, die Priorisierung müsse "nachvollziehbar" sein. Der Impfstoff werde je nach Bevölkerungszahl an die Bundesländer verteilt. "Bei diesem Verteilmechanismus bleibt es." Das dürften die nur die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Jugendhilfe nicht gerne hören.

Dirk Baas