sozial-Branche

Behinderung

215 Euro Monatslohn – in Corona-Zeiten zu viel




Werkstattbeschäftigter in die Arbeit vertieft
epd-bild/Uwe Möller
Die Corona-Pandemie trifft Menschen mit Behinderungen besonders hart - auch in finanzieller Hinsicht. Denn einige von ihnen bekommen nun deutlich weniger Geld von ihren Werkstätten. Auch vor der Krise gab es große Unterschiede in der Bezahlung.

Kurzarbeit, Entlassungen, Schließungen: Die Corona-Krise bedroht die Existenzen zahlreicher Unternehmen. Das gilt auch für Behindertenwerkstätten. Zu ihrem eigenen Schutz durften viele der behinderten Beschäftigten ihren Arbeitsplatz monatelang nicht betreten. "Mitarbeitende haben teilweise mit Ehrenamtlichen die noch ausstehenden Aufträge abgearbeitet", sagt Kerstin Tote, Pressesprecherin des Bundesverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP). Auch die Auftragslage sei noch nicht wieder auf dem Stand von vor der Pandemie. "Es ist nicht abzusehen, wann die Werkstätten wieder ihren gewohnten Umsatz machen." Klar ist: Die Schutzmaßnahmen haben große Löcher in die Kassen der Werkstätten gerissen – und damit teilweise auch in die der Behinderten. Denn ihr Einkommen hängt von den Einnahmen ab, die die Werkstatt erwirtschaftet.

Im siebten Krisenmonat

Einzelne Werkstätten mussten aufgrund der Corona-Krise bereits die Entgelte der Behinderten kürzen, wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) bestätigt. Zwar seien Werkstätten verpflichtet, Rücklagen zu bilden, um Lohnkürzungen zu verhindern. Die Rücklagen seien "in einzelnen Werkstätten im mittlerweile siebten Krisenmonat allerdings erschöpft". Kürzungen seien "das letzte Mittel, um die Existenz der Einrichtung zu sichern", betont Kerstin Tote.

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, hält die verminderte Vergütung für nicht vertretbar: "Das, was die Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten am Ende des Monats in der Lohntüte haben, ist aus meiner Sicht sowieso schon sehr gering. Weitere Kürzungen zu Lasten der Menschen sind nicht vermittelbar und sollten unterbleiben." Er sieht die Bundesländer in der Verantwortung: Sie sollten finanzielle Leistungen aus der Eingliederungshilfe großzügiger bereitstellen, fordert Dusel.

Tatsächlich hat die Bundesregierung im Juni beschlossen, 70 Millionen Euro aus der Ausgleichsabgabe den Ländern und deren Integrationsämtern zu überlassen – damit die Lohneinbußen der Werkstattmitarbeiter zumindest teilweise kompensiert werden können. Nach Angaben der BAG WfbM belief sich die Summe letztlich jedoch nur auf rund 58 Millionen Euro – rund 215 Euro pro Werkstattmitarbeiter. Zudem verzögert sich die Auszahlung: "In zahlreichen Bundesländern sind die Verfahren über die Verteilung dieser Mittel noch nicht abgeschlossen", stellt die Arbeitsgemeinschaft fest. "Das bedeutet, dass das Geld bislang weder bei den Werkstätten angekommen ist, noch in der Höhe kalkuliert und eingeplant werden kann", fasst Kerstin Tote zusammen.

Entgelte zwischen 114 und 254 Euro

Nicht alle Werkstätten sind betroffen, viele Behinderte erhalten weiterhin ihre volle Bezahlung. Lohnunterschiede gab es bereits vor der Corona-Pandemie: "Die Durchschnittsverdienste in den Einrichtungen sind sehr unterschiedlich", stellt das Büro des Behindertenbeauftragten Dusel fest. Das liegt zum Teil an gesetzlichen Vorgaben. Denn das Einkommen von Werkstattmitarbeitern setzt sich zum einen zusammen aus bundesweit einheitlichen Posten – dem Grundbetrag von 89 Euro und dem Arbeitsförderungsgeld von 52 Euro. Zudem ist ein sogenannter Steigerungsbetrag vorgesehen, der abhängig von der Arbeitsleistung des Einzelnen und den Einnahmen der Werkstatt ist. Er kann sich also sowohl zwischen als auch innerhalb der Werkstätten unterscheiden.

Im Jahr 2018 verdienten die die in den Werkstätten beschäftigen Behinderten laut der BAG WfbM durchschnittlich rund 215 Euro im Monat. Dabei gibt es deutliche Gehaltsunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Während Behinderte in ihren Werkstätten in den alten Bundesländern (mit Berlin) rund 228 Euro monatlich verdienen, sind es in den neuen Bundesländern nur rund 166 Euro. Am meisten erhalten die Mitarbeiter in Bayern (254 Euro), am wenigsten in Sachsen (114 Euro). Woran liegt das? Eine Ursache könnten laut dem Büro des Behindertenbeauftragten die unterschiedlichen konzeptionellen Ausrichtungen der Werkstätten sein – etwa ob sie einen eher arbeitstherapeutischen oder wirtschaftlichen Fokus haben. Auch der regionale Standort könne ein wirtschaftlicher Faktor sein.

Unterschiede gesetzlich gewollt

Ähnlich äußert sich die BAG WfbM. "Die Unterschiede sind dem strukturellen Umfeld und der Ausrichtung der Werkstatt geschuldet und gesetzlich gewollt", teilt die Arbeitsgemeinschaft mit und verweist auf den individuellen Steigerungsbetrag. Damit dieser Beitrag möglichst hoch ausfällt, halte die Caritas ihre Mitglieder an, auch auf die Wirtschaftlichkeit ihrer Einrichtung zu achten, sagt Kerstin Tote. Allerdings hält auch sie den Standort für einen wichtigen Faktor, "da es in strukturschwachen Gebieten ohne starke Wirtschaft schwieriger sein kann, gewinnbringende Aufträge zu erhalten".

Einig sind sich alle Beteiligten, dass das Vergütungs-System so nicht funktioniert. "Auch wenn es die Corona-Krise besonders drastisch zeigt: Es war schon davor ersichtlich, dass das in der Werkstättenverordnung verankerte Finanzierungssystem der Werkstattentgelte an seine Grenzen stößt", mahnt die BAG WfbM. Das Finanzierungssystem müsse grundlegend reformiert werden. Auch die Caritas hält eine Reform für notwendig: "Ziel ist eine Entgelterhöhung für die Beschäftigten", sagt Kerstin Tote.

Lynn Osselmann