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Familie

Hoher Geheimhaltungsdruck bei Missbrauch in der Familie




Esther Klees
epd-bild/Kristin Trüb
Esther Klees forscht seit über zehn Jahren zum Thema Missbrauch von Geschwistern, ein noch immer tabuisiertes Thema. Die Professorin beklagt bei Fachkräften den Hang, sexualisierte Gewalt bei Kindern und Jugendlichen zu bagatellisieren. Im Interview spricht sie über Mängel in der Forschung, Scham der Opfer und Wege aus der Gewalt.

Esther Klees, seit 2019 Professorin für Soziale Arbeit an der IUBH Internationale Hochschule, hat viele Jahre als Diplom-Sozialpädagogin in den Erziehungshilfen gearbeitet, vorwiegend mit verhaltensauffälligen Jungen und durch Gewalt traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Seit mehr als zehn Jahren ist sie auf das Thema "Sexualisierte Gewalt durch Geschwister" spezialisiert. Über die Besonderheiten auf diesem Feld des Missbrauches, das kaum in der öffentlichen Wahrnehmung steht, hat Dirk Baas mit ihr gesprochen.

epd sozial: Frau Professor Klees, es gibt keine Studien über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt durch Geschwister in Familien. Warum fehlt es auf diesem wichtigen Feld an Forschung?

Esther Klees: Es stimmt, dass es keine exakten Studien in Deutschland gibt. Das hat seinen Grund auch darin, dass bei repräsentativen Forschungsprojekten, die es in den letzten Jahren gab, bei sexualisierter Gewalt ein Altersunterschied zwischen Täter und Opfer von mindestens fünf Jahren vorausgesetzt wird. Folglich werden alle Fälle, bei denen Täter und Opfer diesen Altersunterschied nicht aufweisen, per se nicht als Fälle sexualisierte Gewalt berücksichtigt. Das ist ein großes Problem, denn bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister ist der Altersunterschied in vielen Fällen auch geringer - daher werden diese Zahlen leider nicht erfasst.

epd: Etwas Licht im Dunklen gibt es aber schon?

Klees: Ja, wir haben eine interessante Untersuchung, die in Einrichtungen für sexualisiert übergriffige Kinder und Jugendliche gemacht wurde. Es gibt bundesweit etwa 70 bis 80 dieser Angebote. Von all diesen Kindern und Jugendlichen haben 50 Prozent auch oder ausschließlich ihre Geschwister missbraucht. Aber es wurden nur Betroffene in spezialisierten Einrichtungen befragt, also eine ganz besondere Zielgruppe. Wir haben mittlerweile durch andere repräsentativen Studien Daten zu Vätern, Stiefvätern, Müttern, Onkeln, Tanten, aber eben nicht zu den Geschwistern.

epd: Sie beklagen, dass diese familiären Taten kaum nach außen dringen. Liegt das nicht in der Natur der Sache, weil die Taten im geschützten Raum der Familie passieren?

Klees: Es ist sehr häufig so, dass dieses Familiengeheimnis bewusst nicht nach außen dringt. Es besteht ein sehr hoher Geheimhaltungsdruck, weil die Eltern sich für das was passiert ist mitverantwortlich fühlen. Wie kann es sein, dass sie nichts bemerkt haben? Wieso hat das betroffene Kind ihnen nichts erzählt? Aufgrund ihrer Schuld- und Schamgefühle wenden sie sich nicht an Personen außerhalb der Familie, und daher geht der Missbrauch oft über viele Jahre unentdeckt weiter, nicht selten bis die übergriffigen Kinder oder Jugendlichen erwachsen sind und dann die Familie verlassen.

epd: Was ist bei den Opfern zu beobachten?

Klees: Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Geschwister leiden häufig unter den gleichen Langzeitfolgen wie auch Betroffene erwachsener Täter. Wenn die sexualisierte Gewalt spielerisch angefangen hat, fühlen sich viele Betroffene mitschuldig, weil sie ja zunächst freiwillig mitgemacht haben – aus Schuldgefühlen schweigen sie. In vielen Fällen besteht zu den übergriffigen Geschwistern aber auch eine liebevolle Beziehung, die in Bezug auf die Eltern vermisst wird und diese Beziehung möchten sie erhalten. Es gibt aber auch viele Betroffene, die ihren Eltern von den sexualisierten Übergriffen erzählen, ohne, dass ihnen Glauben geschenkt wird. Das erschwert zusätzlich die Aufdeckung der Gewalttaten.

epd: Sie forschen seit mehr als zehn Jahren auf diesem Gebiet. Kommt es oft zur "Weitergabe" von Gewalt? Und welche Motive lassen sich benennen?

Klees: Zu Übergriffen durch Geschwister kommt es oft in kinderreichen Patchworkfamilien, in denen die Kinder von ihren Eltern emotional und/oder körperlich vernachlässigt werden. Ein großer Anteil der sexualisiert übergriffigen Kinder stammt zudem aus Familien, in denen sie selbst schwere Formen von körperlicher oder auch sexualisierter Gewalt erfahren mussten - oftmals durch ihre Väter oder Stiefväter. Sie versuchen ihre Ohnmachtsgefühle und ihre Hilflosigkeit zu überwinden, indem sie die "Opferrolle" verlassen und selbst sexualisierte Gewalt ausüben. Es geht also weniger um Sexualität, sondern eher um Macht.

epd: Welche Problemlösungen könnte es geben?

Klees: Werden keine anderen Konfliktlösungsstrategien und Wege zu Selbstwirksamkeitserfahrungen erlernt, chronifiziert sich das Verhalten. Aufgrund der enormen Verfügbarkeit der Geschwister und der besonderen Kontrolle innerhalb der Familie, bedeutet das, dass die betroffenen Geschwister über mehrere Jahre häufig mehrmals pro Woche der sexualisierten Gewalt ausgesetzt sind. In meiner eigenen empirischen Studie habe ich beispielsweise einen Jugendlichen interviewt, der in etwa 600 einzelne Taten des überwiegend erzwungenen Geschlechtsverkehr an einem Geschwisterkind begangen hat und auch noch weitere Geschwister sexuell missbraucht hat.

epd: Wie reagieren Erzieherinnen, Lehrer, Mitarbeiter der Jugendhilfe oder der Jugendämter? Gibt es dort einen Hang, solche Fälle zu bagatellisieren?

Klees: Leider ist das oft so bei Fachkräften, ganz gleich ob es sich um Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen, Lehrer in Schulen, Sozialpädagogen in der Jugendhilfe, in Wohngruppen oder Fachpersonal beim Jugendamt handelt. Es gibt sowohl den Hang zum Bagatellisieren als auch zum Dramatisieren. Meine Erfahrung zeigt jedoch, dass häufiger bagatellisiert wird und die sexuellen Kontakte vorschnell als "Doktorspielchen" abgetan werden, um sich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was nicht sein darf. Bei mir melden sich immer wieder Betroffene, die mir davon berichten und auch verunsicherte Fachkräfte. Studien aus anderen Ländern bestätigen diese Tendenz - auch diesbezüglich wären empirische Studien in Deutschland interessant.

epd: Welche Gründe könnte das Bagatellisieren haben?

Klees: Viele Fachkräfte können sich schlicht nicht vorstellen, dass bereits ein 11-Jähriger seine fünf Monate alte Schwester anal penetriert, wenn er auf sie aufpassen soll. Viele denken, dass sexualisierte Gewalt erst ab der Pubertät beginnt. Die Arbeit mit den Familien kann aber auch sehr anstrengend werden und es ist aufgrund des Schweigegebotes und der Loyalitätskonflikte schwierig, an verlässlich Informationen zu kommen - besonders dann, wenn auch die Betroffenen schweigen. Auch die Fachkräfte sind unsicher und fühlen sich nicht selten mit der Komplexität der Fälle überfordert - daher scheuen wahrscheinlich viele Fachkräfte vor dem Thema zurück.

epd: Was ist zu tun, um mehr Öffentlichkeit auf dieses heikle Thema zu lenken?

Klees: Ziel muss es sein, das bestehende Tabu aufzubrechen. Um die Öffentlichkeit und vor allem auch erst einmal die Fachöffentlichkeit zu sensibilisieren, müsste zunächst einmal mehr und auch präziser geforscht werden. Das Thema darf nicht länger ausgeklammert werden.

epd: Ist das eine Frage des Geldes?

Klees: Es ist auch eine Frage des Geldes. Der Bund hat ja umfangreiche Forschungsmittel zur Verfügung gestellt, aber eben nicht für dieses Thema. International gibt es ja auch schon diverse Studien - auch ein fachlicher Austausch auf internationaler Ebene wäre wünschenswert. Zudem müsste Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden. Im Auftrag des "Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs" wurden ja bereits Werbespots zum Thema sexualisierte Gewalt produziert, die im Fernsehen zu sehen sind - auch hier könnte man das Thema "Geschwister" einbeziehen. Zudem wäre es wichtig, kostenlose Aufklärungsbroschüren zu entwickeln und beispielsweise bei Ärzten, Ämtern und Behörden auszulegen.

epd: Sie fordern auch, das Thema stärker in die Ausbildung und das Studium sozialer Berufe einzubinden. Was versprechen Sie sich davon?

Klees: Ich halte es für sehr wichtig, dass Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen dieses Thema überhaupt erst einmal im Studium oder im Rahmen einer Ausbildung kennenlernen. Sie müssen lernen, wie man sexualisierte Gewalt von Doktorspielen unterscheiden kann und welche Intervention in welchem Fall sinnvoll wäre. Man muss leider sagen, dass auch in der heutigen Zeit viele Fachkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung oder ihres Studiums keinerlei Berührungspunkte mit dem Thema sexualisierte Gewalt haben. Das ist sehr bedenklich. Zudem müssen auch Fachkräfte, die bereits im Beruf tätig sind, zu den besonderen Dynamiken bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister fortgebildet werden.