sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Barrierefreie Gerichtsverhandlung nicht von zu Hause aus




Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass kein Recht auf einen Online-Chat besteht, um eine Verhandlung von daheim aus verfolgen zu können.
epd-bild / Norbert Neetz
Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann ein Autist keinen Online-Chat verlangen, um so an einer Gerichtsverhandlung teilnehmen zu können. Demnach gilt: Gerichte müssen mündliche Verhandlungen nicht komplett nach den Wünschen behinderter und psychisch kranker Verfahrensbeteiligten ausrichten.

Zwar seien die Gerichte gehalten, behinderten Menschen eine barrierefreie Teilhabemöglichkeit an Verhandlungen zu gewähren. Doch befanden die Karlsruher Richter in einer am 3. Januar veröffentlichten Entscheidung, dass ein autistischer, in seiner sozialen Kommunikation eingeschränkter Mensch nicht das Recht habe, per Online-Chat an der Verhandlung teilnehmen zu können. Sehbehinderte Menschen können nach einer weiteren Entscheidung der Karlsruher Richter aus dem Jahr 2014 dagegen Anspruch auf Prozessunterlagen in Blindenschrift haben.

Im aktuellen Fall ging es um einen autistischen Mann aus Sachsen mit sogenanntem Asperger Syndrom. Die Erkrankung geht mit Kommunikationsstörungen, Vereinzelung und teilweise auch körperlich ungeschicktem Verhalten einher. Der 42-Jährige Beschwerdeführer wollte wegen seiner Erkrankung gerichtlich einen höheren Grad der Schwerbehinderung (GdB) erreichen. Zusätzlich verlangte er die Merkzeichen G, B, H und RF in seinem Schwerbehindertenausweis.

Chat als barrierefreie Teilnahme gefordert

Zudem forderte er eine "barrierefreie" Teilhabemöglichkeit an der mündlichen Verhandlung. Wegen seiner Kommunikationsstörung wollte er von zu Hause per Online-Chat an der mündlichen Verhandlung des Gerichts teilnehmen.

Das Sächsische Landessozialgericht beharrte indes auf der persönlichen Anwesenheit des Mannes. Es bot ihm aber an, ihm den Sachbericht zur Verhandlung vorab schriftlich zu übersenden.

Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass behinderte und psychisch kranke Menschen zwar ein Recht auf barrierefreie Teilhabe an einer mündlichen Verhandlung haben. Doch auch wenn nach dem Grundgesetz niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden dürfe, ergebe sich daraus nicht das Recht, dass Betroffene eine mündliche Gerichtsverhandlung uneingeschränkt nach ihren eigenen und individuellen Vorstellungen verlangen können.

Ein Anspruch darauf, an einer mündlichen Verhandlung per Online-Chat teilzunehmen, gebe es nicht. Denn die Verhandlung diene dazu, den Sachverhalt transparent und korrekt zu ermitteln. Dies sei "rechtsstaatlich unerlässlich", befanden die Verfassungsrichter. Der Mann habe zudem die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, der seine Rechte in der Verhandlung wahrnimmt.

Gerichte müssen Beeinträchtigten entgegenkommen

Generell müssen sich Gerichte aber bemühen, den Beeinträchtigungen behinderter Menschen entgegenzukommen. So hatte das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am 14. November 2013 entschieden, dass ein Autist Fragen eines medizinischen Gutachters zur Bestimmung des Grades der Behinderung nicht im direkten Kontakt beantworten muss.

Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2014 können blinde und sehbehinderte Menschen zumindest in komplizierten Gerichtsverfahren verlangen, dass Prozessunterlagen in Blindenschrift verfasst werden. Ein solcher Anspruch bestehe allerdings nicht, wenn es sich um einen einfachen Rechtsstreit handelt und ihr Anwalt ihnen die Akten "gleichwertig" vermitteln kann, entschieden die Verfassungsrichter. Im konkreten Rechtsstreit war das der Fall.

Ähnlich hatte auch das BSG am 18. Juni 2014 entschieden. Blinde und sehbehinderte Personen haben danach Anspruch auf "barrierefreie Zugänglichmachung von Dokumenten im gerichtlichen Verfahren", wenn ihr Anwalt den Streitstoff nicht gut vermitteln kann. Betroffene hätten dann ein Wahlrecht, ob sie die Schriftsätze in Blindenschrift, als Hörkassette, in Großdruck oder auch in elektronischer Form erhalten wollen.

Verständigung muss möglich sein

Auch hör- und sprachbehinderte Menschen haben nach einer weiteren Entscheidung des BSG Anspruch darauf, dass sie sich im gerichtlichen Verfahren verständigen können. Im konkreten Fall wollte die hörbehinderte Klägerin vor Gericht die Kostenübernahme für zwei teure Hörgeräte von ihrer Krankenkasse erstreiten.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen lehnte das unter anderem wegen widersprüchlicher Aussagen der Frau ab. Diese rügte einen Verfahrensmangel, weil sie wegen ihrer Hörbehinderung der Verhandlung nicht habe ausreichend folgen können.

Diesen Verfahrensmangel bestätigte auch das BSG in seinem Beschluss vom 28. September 2017 und verwies den Rechtsstreit an das LSG zurück. Gerichte hätten eine Fürsorgepflicht zur Sicherstellung ausreichender Verständigungsmöglichkeiten. Hör- und sprachbehinderten Menschen müssten erforderliche technische Hilfsmittel angeboten werden. Dies sei hier unterblieben.

Az.: 1 BvR 957/18 (Bundesverfassungsgericht, mündliche Verhandlung)

Az.: B 9 SB 5/13 B (Bundessozialgericht, Gutachter)

Az.: 1 BvR 856/13 (Bundesverfassungsgericht, Blindenschrift)

Az.: B 3 P 2/14 B (Bundessozialgericht, Blindenschrift)

Az.: B 3 KR 7/17 B (Bundessozialgericht, Hörbehinderte)

Frank Leth